Montagnachmittag: gemäß der Jahreszeit wird es langsam schummrig in Deutschland, aber überall in den Städten leuchtet es rot auf: Beim „Aktionstag Theater und Orchester“ des Deutschen Bühnenvereins lassen die Intendanten ihre Häuser von innen wie in Flammen leuchten. Denn ansonsten herrscht dort Leere – der Kultur-Lockdown in Deutschland geht in einen weiteren Monat. Auch im Dezember wird nirgendwo live ein Theaterstück, ein Konzert, ein Kabarettabend, eine Lesung oder eine Ausstellung zu erleben sein.
An vielen Orten wird die Lichtaktion begleitet von Demonstrationen der Künstler. Nicht so in Stuttgart – mit voller Absicht: „Wir gehen an diesem Tag als Personen bewusst nicht auf die Straße“, erläutert Brigitte Dethier vom Theater Jes. „Es ist schwierig mit den Corona-Demos; wir möchten auf keinen Fall in falsche Gesellschaft geraten mit Corona-Leugnern.“
Deswegen haben die Stuttgarter Intendanten einen anderen Weg gewählt, um mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten: Sie haben den Zeitungsredakteur zu ihrer Video-Intendantenkonferenz eingeladen. „Die Theater sind weiter geschlossen“, sagt Timo Steinhauer , der Geschäftsführer des Friedrichsbau Varietés. „Uns fehlt das Publikum. Uns fehlen die Einnahmen. Der Gesellschaft und den Städten fehlt die Kultur.“ Das müsse zum Ausdruck gebracht werden. Also berichtet man dem Journalisten, wie die Lage an den Häusern gerade ist.
Seit zwei Jahren treffen sich Chefinnen und Chefs der großen und kleinen Bühnen zum informellen Austausch. Seit März ist ihr Hauptthema: Corona. „Diese Solidarität unter den Kulturschaffenden in der Stadt hat mir ganz persönlich im Lockdown geholfen“, berichtet Susanne Heydenreich , die Intendantin vom Theater der Altstadt. „Inzwischen sind ja selbst die Plakatsäulen auf den Stuttgarter Straßen kahl. Dieses Bild der Leere brennt sich bei mir ein.“ Anders als im Frühjahrs-Lockdown sei wenigstens die Probenarbeit weiter erlaubt. „Aber es sind Geisterproben – für was?“ Die Produktion „Geliebter Lügner“, fix und fertig für eine Premiere am 4. Dezember – „gerade haben wir die Geistergeneralprobe hinter uns gebracht.“ Künstlerische Projekte mit viel Herzblut aller Beteiligten – vielleicht dann fürs Frühjahr. Oder für die Tonne.
Wann erfährt man als Intendant, dass der Lockdown in die Verlängerung geht? „Zu spät“, sagt Dethier. „Wir warten auf die Pressekonferenzen im Fernsehen wie alle. Wir versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen und keine Andeutung zu verpassen. Wir fischen in der Buchstabensuppe der Politik. Aber Planungssicherheit gibt es nicht. Wir sind wie Kapitäne auf der Schiffsbrücke. Um uns Nebel.“
Wäre gerade auch im Negativen Planungssicherheit besser – eine generelle Schließung aller Bühnen bis Ende Januar, wie es das Ministerium für die Staatstheater gerade verkündet hat, oder gar bis Ende Februar? „Die Situation an großen und an kleinen Häusern ist sehr unterschiedlich“, antwortet Esther Bernhardt vom Studio Theater. „Wir sind ein kleines Haus mit kleinem Stab, kleinen Produktionen. Wir sind gerade wie im Stand-by-Betrieb: Sobald ein bisschen Lockerung möglich ist, können wir wieder starten.“
„Wir haben auch Verantwortung für unsere Künstler“, meint Katja Spiess vom Figurentheater Fitz. „Wir arbeiten weiter, weil es für viele Stücke Projektzuschüsse gibt, die wir sonst verlieren würden und von denen die freien Künstler leben“. Kleine Produktionen, neue künstlerische Formen für die Zeit „danach“, daran möchte auch Julianna Herzberg vom Theater La Lune unbedingt weiterarbeiten. „Es ist gerade jetzt unser Lebenselixier, Kunst zu machen, uns vorzubereiten.“ Doch Hannes Eimert vom Wortkino bringt den Zwiespalt auf den Punkt: „Ich bin Theatermann, ich bin aber auch Arbeitgeber. Für die Künstler ist es gut, dass wir weiterproben. Für meine Abrechnung wäre es besser, ich könnte in allen Räumen die Heizung runterstellen.“
Für größere Häuser ist eine sicher planbare, längere Schließzeit überlebenswichtig. „Ohne Kurzarbeit hätte uns 2020 die Insolvenz geblüht; ohne Kurzarbeit würde sie uns wohl auch 2021 drohen“, sagt Axel Preuß von den Schauspielbühnen. „Wir haben alles abgesagt bis Anfang Februar“, berichtet Timo Steinhauer vom Friedrichsbau. „Wir müssen 95 Prozent unseres Budgets selbst erwirtschaften. Das Weihnachtsgeschäft ist verloren.“
Das Renitenztheater hält sich vorerst an die aktuelle Verordnung und schließt nur bis zum 20. Dezember; 24 weitere Veranstaltungen müssen gecancelt werden. „Wir hören, dass immer mehr Künstler beruflich umsatteln. Irgendwoher müssen die Brötchen ja kommen“, berichtet der Kaufmännische Direktor Roland Mahr . „Und warum sind die Gottesdienste eigentlich besser gestellt als eine Kabarettvorstellung? Oder tagsüber die Kaufhäuser besser als die Museen“?
Sorgen macht sich auch Franziska Kötz , die Leiterin der Schauspielschule an der Hochschule für Musik. Für sie ist das Wilhelma Theater auch Ausbildungsort: „Unsere Studenten haben derzeit keine Chance, unter Realbedingungen vor Publikum auf der Bühne zu spielen oder zu inszenieren. Das geht an die Qualität eines ganzen Jahrganges.“
Werner Schretzmeier vom Theaterhaus hat im Auftrag der Runde Zahlen zusammengestellt – eine Leistungsbilanz: „Die 15 Stuttgarter Bühnen“ – die Staatstheater sind nicht dabei – „haben 2019 insgesamt 4881 Veranstaltungen angeboten“. Das wären fast 14 pro Tag; alle Ferien mitgerechnet. „Es kamen 839 360 Besucher zu uns. Wir beschäftigen 438 festangestellte Mitarbeiter und 5437 freie Künstlerinnen und Künstler.“ Und wie viele Vorstellungen und Termine sind 2020 schon jetzt ausgefallen? „2553“.
Wann rechnen die Intendanten mit der Rückkehr zum Normalbetrieb? „Wenn nach den Sommerferien 2021 wieder der gewohnte Spielbetrieb möglich wäre, würde ich schon jubeln“, meint Mahr. Ein Stichwort für Jes-Chefin Dethier: „In anderen Bundesländer stellen sich Minister hin und sagen: Die Kultur musste als Erstes schließen, die Kultur soll auch als Erstes wieder öffnen. Wer sagt das von den Verantwortlichen in Baden-Württemberg? Keiner.“ Allseits Nicken via Zoom.