erschienen am 29.04.2024 von Katja Kollmann bei Fidena Portal
Wenn eine Tasse anfängt, ein Eigenleben zu entwickeln, dann wird Trinken zur Herausforderung. Mit dieser Erkenntnis geht man raus aus dem T-Werk Potsdam. Drinnen beherrschten eine rote und eine blaue Emaille-Tasse die Szenerie. Kraftvoll stemmen sie sich gegen die Schwerkraft und streben gen Himmel bzw. Zwischendecke. Sarah Chaudon und Clara Palau y Herrero halten sich an ihnen fest und werden unweigerlich mit nach oben gezogen. Auch als sie die Tassen wieder nach unten drücken, werden sie wieder nach oben gezogen – und beim fünften Mal kleben die Tassen an der Decke. Wenig später schauen sich auch zwei Stühle die Welt von oben an.
Die neue Stückentwicklung des TANGRAM Kollektivs „Leicht schräg“ (für Menschen ab fünf) kommt ganz ohne Worte aus. Dafür verstärken die Spielerinnen ihre Mimik. Beide lassen sich auf die Gegenstände ein, unterwerfen sich scheinbar der Macht der Dinge und entwickeln daraus ihr Spiel. Es geht sogar so weit, dass sich Körperteile selbständig machen. Sind es die Beine, dann wird das Sich Setzen und das geplante aus der Tasse-Trinken zu einem Slapstick-artigen Endlos-Versuch. Belohnt wird das Ganze mit einem radikal kurzen Trinkmoment, in dem sie die Situation unter Kontrolle haben und enorm beglückt aus ihren Tassen trinken.
Chaudon und Palau y Herrero regen sich über den permanenten Kontrollverlust nicht auf. Ihr Spiel lebt von der Fähigkeit, sich ständig von der Welt, die einen umgibt, überraschen zu lassen und damit entspannt umzugehen. Das hat Charme-Faktor hoch zehn und kommt der Art und Weise, wie Kleinkinder die Welt erfahren, sehr nah.
Dann „verlassen“ die Stühle die Bühne. Nur noch das 2x1m große Brett, das durch Seile mit dem Boden verbunden ist, hängt waagerecht in der Luft. Vereint ziehen Chaudon und Palau y Herrero an den Seilen. Die Decke kippt, liegt schräg in der Luft und steht dann senkrecht auf dem Boden. Wie von Geisterhand schneidet sich ein Messer durch das Brett. Von hinten erforschen die Spielerinnen das Loch. Sie tasten sich mit den Händen an seinen Rändern entlang, dann schiebt sich ihr Kopf durch die Öffnung. Der Bewegungsrhythmus steigert sich nochmals zu einem Slapstick, der sie aus dem Fenster herauskatapultiert. Spannend ist, wie sie dann auf dem Bühnenboden stehen und ihre Körper sich zu Brett sprich Wand verhalten, als ob die Schwerkraft nicht existierte.
© Franka Schwuchow
Als sich das Brett um 90° aufrichtet und hochkant steht, entsteht eine klassische Puppentheater-Situation. In der Öffnung tauchen nun nacheinander zwei winzige Stabpuppen auf. Es sind die Alter Egos der Spielerinnen. Sie bekommen auch Millimeter-kleine Tassen in die Hand. Natürlich in Rot und Blau.
Chaudon und Palau y Herrero tauchen neben dem Brett auf, verschwinden dahinter, bespielen ihre Alter-Ego-Puppen, immer wieder im Wechsel. Beglückt verfolgt man das Spiel mit der Wahrnehmung der großen und winzigen Versionen. Die Dramaturgie dieser Mini-Szenen-Abfolge funktioniert wie ein Daumenkino. Sogar Miniatur-Stühle stoßen dazu, fürs gepflegte Nippen an der Tasse. Die schnelle Rhythmik von Auf- und Abtauchen begeistert und versetzt einen gleichzeitig in den Zustand einer leichten Wahrnehmungsstörung, weil man in Sekundenschnelle zwischen beiden Wahrnehmungsräumen hin und her geworfen wird. Danke dafür, TANGRAM Kollektiv. Ein spannender Zustand, dem man im geschützten Raum des Theaters wunderbar nachspüren kann.
Als die Stabpuppen ihre Tassen geleert haben, ist nach einer guten halben Stunde „Leicht schräg“ vorbei. Wo oben und unten ist, darüber kann man definitiv diskutieren, denkt man jetzt und tritt hinaus in die Potsdamer Frühlingssonne. Das kleine, feine Radar-Figurentheater-Festival geht am Abend weiter. Die leicht ins Surreale kippenden Szenenbilder der Inszenierung spuken im Kopf herum. Besonders das mit der Wasserflasche, in der Wasser ist, aber einfach nicht rauskommen will, obwohl sie kopfüber hängt und der Deckel offen ist.
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