In sieben Rätseln erkundet „überALL unterALL" am Leipziger Westflügel Zusammenhänge des Lebens.
erschienen am 12.09.2023 von Dimo Rieß bei Leipziger Volkszeitung
Theater kann auch schon vor der Saaltür beginnen, das Publikum einfangen und mitnehmen auf eine Reise. In diesem Fall, am späten Samstagnachmittag im Westflügel, geht es für Ensemble und Publikum gemeinsam die Treppe hinauf zum Saal. Rückwärts, Stufe für Stufe. Rückwärts, weil, so raunt es vielversprechend für das junge Publikum, es sehr weit zurückgehen wird in der Zeit in „überALL unterALL". In der folgenden Stunde entpuppt sich die Premiere als fantastische, musikalische Rätselreise zu den Geheimnissen des Lebens.
„überALL unterALL" ist eines der eher raren Kinderstücke des Figurentheater-Duos Wilde & Vogel, in diesem Fall mit Schlagzeuger Philipp Scholz und wie schon zuvor in „Der Hobbit" und „Krabat" mit Regisseurin Christiane Zanger. Von Susa Schmeel stammt der Text, denn das Team greift in diesem Fall nicht auf einen literarischen Stoff zurück, sondern hat sich eingelassen auf eine Stückentwicklung, die auch aus den Ergebnissen eines künstlerischen Dialogs mit Kindern schöpft.
Sieben Rätsel in Versen treffen in der Inszenierung auf die nicht minder enigmatische Bühne von Michael Vogel. Da steht ein schräges Tischchen auf drei Beinen, auf dem dürres Geäst balanciert. Irgendwo in der Höhe des Saales glitzert es silbern und die Lametta-artigen Fäden beginnen sich zu drehen. Philipp Scholz hantiert an Schlagzeug und Glockenspiel. Charlotte Wilde lässt Sand rauschen, Wasser glucksen mit einer Pipette im Glas oder sie streicht mit dem Geigenbogen über eine straff gespannte Schnur.
Aus zum Teil winzigen Apparaturen erwächst die Geräuschkulisse. Und dann schält sich aus dem Schatten einer rückseitig beleuchtenden Trommel, die einem Vollmond gleicht, eine Schildkröte, die ein silbernes Ei ins Publikum reicht, um es von warmen Händen ausbrüten zu lassen.
Das Ei wird sich später teilen in oben und unten. Eine Hälfte wird auf dem Tisch liegen, die andere an der Unterseite angebracht. Ein Bild für das Zusammenspiel zwischen oben und unten, der sichtbaren und unsichtbaren Welt. So lässt sich das filigran auf dem Ei balancierende Geäst als Baum lesen, das angehängte Gegengewicht als Wurzelwerk. Symbolische Bilder, die für das biologische Gleichgewicht stehen, die wechselseitige Abhängigkeit des Lebens. Bühnenmagie feiert den Zauber des Lebens. Doch nicht für alles findet sich eine Erklärung im Biologiebuch: Eine Glitzerfee saust einmal kurz durch die Luft.
„Wer springt zwischen oben und unten?", fragt eines der Rätsel. Michael Vogel lässt einen Frosch über die Bühne hüpfen, halb Marionette, halb mit den Händen gespielte Puppe. Der Frosch als Grenzgänger von Wasser- und Landwesen, als Symbol der Evolution. Ein wildes Trüffelschwein stiftet Chaos auf der Bühne und führt mit der Nase zum Thema Pilz und zum Sporenflug, wenn sich Staub sichtbar aus einem geplatzten Luftballon verbreitet.
Vogel, Wilde und Scholz erklären nur das Grundlegendste, ein paar Stichworte zum Myzel, dem zum Teil kilometerlangen und Jahrhunderte alten Fadengeflecht der Pilze, das der Wissenschaft immer noch Rätsel aufgibt - lassen dann aber vorzugsweise Bilder sprechen. Ton kleckst, Wurzelgeflecht sprießt und im Schwarzlicht leuchtet ein dünnes Netzwerk, in dem sich alles mit allem verbindet. Sogar die Bühne mit den Händen im Publikum, auf die die Spieler Farbe tupfen.
Das besitzt hohen Schau wert und einen unaufdringlichen interaktiven Charakter. Jedes Rätsel liegt zum Mitraten offen. Erst das Schwarzlicht offenbart den Schriftzug auf Vogels T-Shirt: „snu enoh xin." Rückwärts gelesen: nix ohne uns. Die Pilze haben gesprochen.
Immer wieder zeigt die Inszenierung die Zusammenhänge und Kreisläufe des Lebens, die allerdings keineswegs dechiffriert werden müssen, um einzutauchen in „überAll unterAll". Eine Inszenierung, die sich auch einfach sinnlich aufsaugen lässt. Geeignet für Kinder ab sechs Jahren, schreiben die Macher. Ein, wie die Premiere zeigt, bezauberndes Theatererlebnis auch für ein erwachsenes Publikum.
LVZ