erschienen am 28.10.2022 von Petra Mostbacher-Dix bei StZN Online
„I believe I can fly!“ Oder doch nicht? Kaum hat die Frau mit Inbrunst die Zeile des Hits von R. Kelly – wegen Missbrauchs verurteilt – gesungen, hält sie fragender Miene inne. Sie presst eine Geige an die Brust, herausgekramt aus einem Haufen Violinen, die sie zuvor aus einem großen Sack geschüttet hat. Zum elektronischen Tosen aus den Lautsprechern traktiert auch die Frau nebenan ein Keyboard auf dem Boden mit den Füßen. Und ein junger Mann schlägt die Trommel, als gehe es um Leben und Tod. Die beiden indes, die sonst die Instrumente spielen, sind anders zugange. Der Gitarrist – zuvor harte Riffs intonierend – schreit in ein Minimegafon; der Geiger – Mann zarter Melodien wie rasanter Triolen – ist starr, während das Chaos Fahrt aufnimmt!
Zerbrechlichkeit heute
Das ist nur eine der eindrücklichen Szenen aus „Zerbrich mein nicht“ des Choreografen Johannes Blattner. Die interdisziplinäre Tanz- und Musikperformance mit Martina Gunkel, Nam Nguyen The und Selina Koch sowie den Musikern Micha Schlüter und Florian Vogel hatte nun im Fitz – Das Theater animierter Formen in Stuttgart Premiere. Darin geht Blattner mittels zeitgenössischem Tanz, Breakdance und Sprache der Frage nach, was Zerbrechlichkeit in der modernen Leistungsgesellschaft bedeutet. Darf man überhaupt Schwäche zeigen? Was macht es mit Menschen, wenn Material, Beziehung, Freundschaft in die Brüche geht? Zerbricht man an gesellschaftlichen Normen?
Was wirklich zählt
Auf der Bühne schwanken denn auch die mitreißenden Protagonisten zwischen allen Polen, Annäherung und Abstoßung, Aktion und Reaktion. Sie springen heftig aufeinander, ertasten sich zart, halten sich, lassen sich fallen, verharren in Stille. Zu filmisch anmutenden Klängen und dramatischem Licht wiederholen sie Bewegungsphrasen und Gesten, bis sie absurd erscheinen. Oder sie fallen aus der Rolle, proben plötzlich bei Arbeitslicht mit Blattner, scheinbar Kontakt und Akzeptanz suchend. „Zerbrich mein nicht“ ist eine beeindruckende Tour de Force, die auf vielen Ebenen zeigt, was wirklich zählt: Gemeinschaft und Liebe jenseits aller Normen.